Æl
„Æl!“
Æl schlug die Augen auf und stolperte eine Schritt zurück. Ein plötzlicher Ruck um die Hüfte stoppte Æls Rückwärtsbewegung, so schnell wie sie begonnen hatte. Ein Seil war um Æls Taille gewickelt. Darunter, ein raues, verwaschenes Oberteil und eine Hose aus dem selben Material.
Æl holte Luft und schaute sich um. Das Seil führte zu einem Haken, der in den Fels gehauen war und war dort verknotet. Der Boden führte schräg hinauf. Gerade so steil, dass Æl nicht mehr ohne das Seil stehen konnte.
Der Blick nach unten war durch immer dichtere Wolken versperrt, doch in der näheren Umgebung waren weitere Gestalten zu sehen. Alle hingen mit einem Seil um die Hüfte am Fels, der mal steiler, und mal flacher wirkte.
Keine der anderen Gestalten reagierte als Æl rief und winkte, sodass der Kontaktversuch nach einer Weile ergebnislos abgebrochen wurde. Ich bin also auf mich alleine gestellt.
Ein schabendes Geräusch lenkte Æls Aufmerksamkeit nach oben. Schräg links, gar nicht so weit weg, öffneten sich langsam zwei schwere Flügel einer Tür, knapp oberhalb eines weiteren Haken. Kräftige Arme erschienen in der Öffnung und zogen die in eine Robe gehüllte Person ins Innere des Berges.
Ein Weg! Æl presste sich an den Berg und versuchte nach oben zu klettern. Hier und da waren kleine Vorsprünge im sonst eher glatten Gestein und boten Halt. Der untere Rand der Tür war fast in Griffweite. Das Seil war zu kurz. So sehr Æl sich bemühte der Weg – so nah – blieb doch unerreichbar. Mit einem weiteren Schaben, begann sich die Tür wieder zu schließen und mit einem letzten Ächzen war der Zugang wieder versperrt.
Ein Wind zog auf und durch die luftige Kleidung begann Æl zu frösteln. Im immer stärker werdenden Wind so dicht wie möglich an die Seite des Felsens gepresst hing Æl zitternd am Seil das den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte.
Wie bin ich hier gelandet? WO bin ich hier gelandet? Ich muss irgendwie in den Berg kommen. Ohne eine Antwort auf diese und viele weitere Fragen versuchte Æl angestrengt irgendeine Erinnerung an das zu finden was vorher passiert war. Doch da war nichts. Auch der Berg selbst offenbarte nichts. Nach unten weg, in unregelmäßigen Abständen Haken mit Seilen. Manche flatterten leer im Wind, der immer stärker zu werden schien. An anderen hingen ebenfalls Menschen. Manche ebenfalls an die Wand gepresst im Versuch den starken Böen zu entkommen. Von irgendwoher schallte ein irres Lachen. Vereinzelt drang auch metallisches Klirren aus der Wolkendecke die nach unten hin immer dichter wurde. Nach oben sah es ähnlich aus. Æl kniff die Augen gegen den Wind zusammen und bildete sich ein, hier und da noch weitere Türen zu erspähen. Von oben mischte sich ein neues Geräusch in das Heulen des Windes. „Tock, ping, tock, tock, klapper, tunk.“ Etwas kam auf Æl zu. Der Wind bäumte sich auf und etwas helles, blitzendes kam angesprungen. Æl zuckte zusammen und riss die Arme vors Gesicht.
Ein starker Ruck am Seil, dann war es still. Æl senkte vorsichtig die Hände und schrie. Ein Totenschädel hing zwischen Seil und Berg. Nach ein paar Sekunden hatte Æl sich beruhigt und inspizierte das Skelett. Bleiche Knochen hatten sich im Haken und dem Seil verfangen. Zusammen mit einer Spitzhacke.
Angewidert, zog Æl langsam und vorsichtig die Spitzhacke aus dem Gewirr. Einzelne Knochen lösten sich und rutschten weiter den Berg hinab. Ein paar Handgriffe später, waren auch die übrigen sterblichen Überreste auf dem Weg weiter nach unten.
Was jetzt? Irgendwie in den Berg? Hierbleiben war jedenfalls keine Option.
Æl suchte mit den Füßen sicheren Halt unterhalb des Hakens. Die Spitzhacke mit beiden Händen weit über den Kopf gehoben holte Æl aus und zielte mit der Hacke auf den nackten Fels oberhalb des Hakens, der die einzige Sicherung gegen den Sturz in den Tod darstellte. Hoffentlich hält der Haken!
Kleine Felssplitter brachen aus dem Gestein. Gut, der Berg schien weicher zu sein als gedacht. Weiter so!
Der nächste Schlag und der nächste. Eine Ewigkeit. Æls Arme begannen zu brennen. Die Zehen und Fußballen waren wund vom schlechten Halt. Die Spitzhacke in der Seilschlinge um die Hüfte verstaut, betrachtete Æl den Fortschritt. Eine kleine Kuhle war im sonst eher glatten Stein entstanden. Von der harten, körperlichen Arbeit erschöpft, sackte Æls Kopf nach unten. Es fiel schwer, die Augen offenzuhalten. Nein, ich muss weitermachen!
Ein paar eher ergebnislose Versuche später gab Æl auf. Eine kurze Pause tat sicher gut. Nur etwas erholen…
Æl schreckte hoch. Wie viel Zeit war vergangen? Die Arme und Füße schmerzten, der ganze Körper steif und kalt. War es dunkler geworden?
Mühsam arbeitete Æl sich hoch, nahm erneut die Spitzhacke zur Hand und begann das eintönige, Kräfte zehrende Handwerk fortzusetzen.
Ohne Möglichkeit die Zeit zu messen, oder überhaupt abzuschätzen, konnte Æl nicht sagen, wie lange die Arbeit dauerte. Unregelmäßig schien es etwas heller und dunkler zu werden, aber einen Tagesablauf konnte Æl nicht ausmachen.
Das Loch reichte inzwischen fast eine ganze Armeslänge in den Fels. Hoch die Hacke. Schlagen.
Leuchtete da etwas im Gestein?
Hoffnungsvoll zog sich Æl über den Rand der Öffnung und kauerte, mit dem Gesicht dich am Stein. In der Tat. Da kam Licht aus einem kleinen Spalt. Bin ich auf eine Höhle im Berg gestoßen?
Die Schmerzen in Armen und Beinen fast verdrängt stellte Æl sich an den Rand und begann frenetisch auf den kleinen Spalt einzuhämmern. Tatsächlich, da drang ein flackerndes schwaches Schimmern nach außen.
Schlag für Schlag weitete sich das Loch. Mit blutenden Handflächen, aufgerissenen Fußsohlen und angestrengt zitternd steckte Æl prüfend einen Arm und anschließend den Kopf durch den klaffenden Spalt. Im Inneren ging es gut eine Körperlänge nach unten der Boden schien aber doch recht nah und stabil. Vorsichtig hievte Æl sich vollständig durch die Öffnung, verlor den Halt, rutschte ab und baumelte kopfüber durch das Loch.
Æl drehte sich am inneren der Höhle entlangtastend richtig herum und versuchte, durch die Schlinge zu schlüpfen. Mit gestreckten Armen, ließ Æl sich langsam auf den Höhlenboden herab.
Erschöpft setzte sich Æl zum ersten Mal auf ebenen Boden.
Die Wände, Decke und Boden der Höhle waren künstlich angelegt. Jemand hatte sich hier entlang gegraben. Wie viel Arbeit das wohl gewesen sein muss.
Æl merkte wie der gesamte Körper vor Erschöpfung schwer geworden war. Auch die Schmerzen überall meldeten sich mit dumpfem Pochen zurück.
Zu zerstört um mit mehr als leichtem Erstaunen zu reagieren, bemerkte wie Æl wie sich das Loch, das eben noch der selbst geschlagene Eingang war, mit Knirschen und Mahlen wieder wie von selbst zu- zuwuchs?
Wo genau bin ich hier?
Mit diesem Gedanken schlief Æl erschöpft auf dem Boden der Höhle, oder besser gesagt des Schachts, im Berg ein.