Æl 2

„Argh!“ mit schmerzverzerrtem Gesicht drückte Æl sich hoch. Arme und Beine schmerzten nach wie vor. Die Wunden an Händen und Füßen waren inzwischen verkrustet und es tat weh sich aufzustützen. Der Schlaf war nötig gewesen, aber der harte kalte Steinboden hatte nicht gerade zur Muskelentspannung und Erholung beigetragen.

Auf allen Vieren kroch Æl vorsichtig zur Wand und lehnte sich an. Der Boden war, genau wie die Wände, direkt in den Fels geschlagen. Hier und da waren Werkzeugspuren zu erkennen, vermutlich von ähnlichen Hacken wie die, die direkt neben Æl lag.

Die verkrampften Muskeln erinnerten an die Tortur in den Berg zu gelangen und Æl war unweigerlich von Bewunderung gefüllt für die Menschen, die hier einen so breiten Schacht geschlagen hatten.

Was Æl bei der Ankunft für eine Höhle gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein sehr ausladender Schacht, der sich in beide Richtungen weiterzog.

Warmes Licht, wie von Feuer, erleuchtete sachte flackernd die unmittelbare Umgebung. Wo das wohl herkommt? Die Wände waren glatt und auch an der Decke war weit und breit keine Lichtquelle zu finden.

Wenigstens kein Wind. Und das warme Leuchten war ein angenehmer Kontrast zur grauen Umgebung außerhalb des Bergs.

Außerhalb! Æl erinnerte sich dumpf an das Erstaunen, als der Berg begonnen hatte das Loch von selbst zu schließen. So viel Arbeit und Mühe einfach in Nichts aufgelöst. Beziehungsweise in Stein.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, Æl war mehrmals eingeschlafen und wieder aufgeschreckt, kehrte die Kraft langsam in Arme und Beine zurück und auch die Schmerzen waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen.

Die Wand selbst zeigte keine Spuren mehr und Æl war sich nicht mal sicher, ob das überhaupt die richtige Wand war.

Der Gang wand sich in beide Richtungen scheinbar gleich weiter, und das Licht schien nach einiger Entfernung nicht mehr zu leuchten – jedenfalls konnte Æl außer Dunkelheit in einem gewissen Abstand nichts mehr erkennen.

Nachdem keine Richtung besser oder schlechter wirkte als die andere, nahm Æl schließlich die Spitzhacke auf, drehte sich nach links und machte sich gequält humpelnd und langsam auf den Weg die Umgebung zu erkunden.

Schritt für Schritt ging es weiter den Gang entlang. Ein sehr langer Gang. Auch ein sehr langweiliger Gang. Nichts. Nur Boden, Wände, Decke. Und das Flackern. Das Flackern war irgendwie interessant. Es gab nach wie vor keine Quelle, aber Æl brauchte sich scheinbar auch erst mal keine Sorgen zu machen plötzlich im Dunkeln zu laufen. Es war zwar nach wie vor dunkel nach vorne und hinten, aber das Leuchten schien mit zu wandern, sodass Æl stets die nähere Umgebung erkennen konnte.

Eine weitere, gefühlte Ewigkeit des endlosen Marsches durch den endlosen Gang, tauchten die ersten Zeichen von Veränderung und anderem Leben auf.

Von den vielen anderen Gestalten, die außen am Berg zu sehen gewesen waren, war kein einziger bisher über Æls Weg gelaufen. Gab es überhaupt jemand anderen hier?

Scheinbar ja, denn vereinzelt, mit vielen, weiten Abständen, hatten wohl manche versucht, sich zur Seite durchzugraben, den breiten Gang zu verlassen.

Die meisten dieser Versuche waren aber wohl schnell wieder aufgegeben worden. Von kleinen Einbuchtungen bis zu Öffnungen die etwa einen halben Schritt tief waren, fanden sich hier verschiedene in den Stein gehauene Spuren anderer.

Æl kam sogar an einem Gang vorbei, der viele Schritte tief in den Fels führte. Nach einer Weil war aber das Leuchten verschwunden und Æl umgedreht um nicht in völliger Dunkelheit vor einer Sackgasse zu stehen. Zwei drei weitere tiefere Gänge später zeichnete sich das gleiche Bild ab. Wer sich zu weit vom Hauptschacht entfernte musste im Dunkeln weitergehen – und vermutlich weiterarbeiten, denn die Gänge waren ja nicht einfach so da.

So ging es weiter den ansonsten monotonen breiten Schacht mit seinem mysteriösem Leuchten entlang.

Ein neues Geräusch unterbrach die vorherrschende Stille, in der sonst nur Æls schlurfende Schritte zu hören waren.

Sehr leise, fast unbemerkt, begann ein Surren. Das Surren wurde lauter und lauter und eine Brise zog durch den Schacht.

Æl war stehen geblieben und blickte angestrengt in die Dunkelheit.

Aus dem Surren wurde ein tönendes, dröhnendes Brummen und langsam zeichnete sich ein Umriss in der Dunkelheit ab. Eine kleine Gestalt mit riesigen, schillernden, schnell vibrierenden Flügeln, die fast den gesamten Gang ausfüllten.

Ein unförmiger Klumpen, ein Hals war nicht wirklich auszumachen, mit lächerlich dünnen Armen und Beinen und verhältnismäßig großer Nase, die bis zur Stirn reichte, hing in Gurten an einer Apparatur, die wohl die Flügel antrieb.

Kurz vor Æl wurde die Gestalt langsamer und landete vorwärts schlitternd, die vier Flügel nach hinten gefaltet.

Die Kreatur ging, mühsam ächzend die Flugmaschine auf den Rücken geschnallt, die Flügel hinterher-schleifend die letzten Schritte, blieb stehen, drehte den Kopf nach oben und musterte Æl von Kopf bis Fuß mit gerümpfter Nase.

Der fleckig grün-violette Körper steckte in einem Anzug mit etwas zu breiten Ärmeln. Dunkles Rot und viele silberne Knöpfe, samtige Schnüre und andere Verzierungen, versuchten ihr Bestes tragend und würdevoll zu wirken, so ganz gelang es aber nicht dieses klumpige Wesen mit den tiefliegenden Augen und dem leicht schiefen Mund irgendwie autoritär oder amtlich zu machen.

Nach eingängiger Prüfung kramte es in einem Beutel der ihm um den Hals hing. Ein Klemmbrett und Stift kamen zum Vorschein.

„E-hem. Willkommen, wie vorab mitgeteilt werden sie eingeteilt. Name?“

„Was?“

„Ist das der Name?“

„Nein – Äh – Æl. Was…?“

„Äh Æl Was. Notiert. Finden Sie sich nun im vorgegebenen Warteraum ein, es geht dann bald weiter.“

„Wie bitte… Ich meine… Äh, wo ist das hier? Was wurde mitgeteilt? Wer bist… sind Sie?“

„§1 Satz 1 der allgemeinen Gemeinschaftsordnung: Um Logikfehler und hindernde Nachfragen zu unterbinden verzichtet das AMT auf weitere Erklärungen.“

„Allgemeine… hä? Mir wurde auch soweit ich weiß nichts mitgeteilt.“

„Nur weil Sie sich nicht erinnern, heißt dass nicht, dass nichts mitgeteilt wurde. Vielleicht waren Sie ja nicht am Ort der Mitteilung. Wie auch immer: §1 Satz 1 der allgemeinen Gemeinschaftsordnung….“

„Ja, ja, auf Erklärungen wird verzichtet.“

„Richtig, macht nur Ärger. Hier, gut darauf aufpassen!“

Das verwirrende Wesen drückte Æl ein Stück sehr altes, sehr trockenes und bereits leicht rissiges Papier in die Hand auf dem „Äh Æl Was“ und ein paar nichtssagende Symbole sowie „AMT“ zu sehen war.

Bevor Æl weitere Fragen stellen konnte, war das Wesen schon vorbei geschlurft, zog an einer Kette der Apparatur und düste erstaunlich schnell und mit ohrenbetäubendem Brummen davon. Der starke Luftstoß ließ Æl zurücktaumeln und mit dem leiser werdenden Surren der Flügel kehrte die Stille zurück in den Gang.

Æl betrachtete das fragile Stück Papier. Gut darauf aufpassen hatte es gesagt. Einfach gesagt als getan. Die verwaschene Kleidung genauer inspizierend fragte sich Æl ob die Hosentaschen schon vorher da waren. Nun gut. Vorsichtig schob Æl das Schriftstück in die neu entdeckte Hosentasche, nahm die Spitzhacke die während des Gesprächs an die Wand gelehnt war zur Hand und machte sich weiter daran dem endlosen Schacht tiefer in den Berg zu folgen.