In Stein gemeißelt #10

Lautlos setzte ein schwarzer Schuh mit rauer Ledersohle auf der Steinmauer auf. Gefolgt von einem Zweiten. Der Schatten erhob sich. Das Mondlicht heute nur spärlich. Die Gestalt blicke sich um. Milchig weiße Augen reflektierten kurz das wenige Licht, das die dünne Sichel vom Nachthimmel schickte. Vor seinem inneren Auge sah das Geschöpf klar seinen Pfad. Neblige Bahnen, hier und da unterbrochen wiesen den nächsten Schritt. Die Gestalt schnupperte kurz mit verhülltem Gesicht in die Luft. Dann sprang sie leichtfüßig weiter.

Ein kurzer Anflug von Schmerz zuckte über den Rand ihres Bewusstseins. Ebenso schnell war das Gefühl wieder in wohltuender Schwärze versackt. Weiter. Schritt, Schritt, Sprung. Hochziehen. Weiter. Die Gestalt landete auf einem Dachvorsprung. Sie verschmolz mit dem Schatten der Hauswand. Eine Nebelschwade zog vorbei. Giftig grün schimmerte die Schwade vor dem inneren Auge des Geschöpfs. Still. Starr. Kein Geräusch. Vorbei.

Der schwarze Stoff, der den Körper der Gestalt einhüllte, schien jedes Geräusch zu schlucken, als sie in die Hocke ging, sich über den Vorsprung schwang und vor einer Tür auf dem Boden aufkam. Eine schwarze Hand drückte sich gegen das Türschloss. Das Schloss glühte kurz auf und die Tür schwang lautlos auf. Mit zwei schnellen Schritten verschwand die Silhouette im Schatten des Eingangs und die Tür verschloss sich auf dieselbe, lautlose Weise. Drinnen bewegte sich die Gestalt in völliger Dunkelheit zielsicher auf ein Zimmer zu. Der Körper schien flacher zu werden, als der Schatten durch die halb offene Tür huschte. Gleich da.

Das Geschöpf stand vor einem sanft golden schimmernden Kristall. Der Kristall bebte, als würde er atmen. Mit einer schnellen Bewegung holte die Gestalt eine Schatulle, aus den Falten ihrer Kleidung. Der Deckel schwang gut geölt auf und der goldene Schimmer des Kristalls schwebte auf die kleine Kiste zu. Das Schimmern in der Kiste wurde heller. Der Kristall hatte jeglichen Schimmer verloren. Zurück blieb eine matte weiße Form.

Aus blinden Augen betrachtete der Schatten die Gestalt. Aufgabe erledigt. Andere kümmern sich darum. Weiter. Zurück.

Schnell und lautlos, wie das Geschöpf das Haus betreten hatte, verschwand es wieder und schwang sich bald im fahlen schwachen Mondlicht über die Dächer. Wenig Zeit später war ein kurzer Schrei zu hören der die Stille der Nacht zerschnitt.

Die Gestalt zog einen großen schweren Vorhang aus fleckigem grauschwarzem Stoff beiseite und quetschte sich durch die Lücke. Vor Vorfreude zitternde Hände holten wenig später die Schatulle hervor. Ein formloses hellgoldenes Leuchten waberte darin umher. Das Geschöpf nahm das Wabern vorsichtig zwischen die Finger und ließ es in ein riesiges Glasgefäß gleiten. Blitze zuckten durch den Inhalt, als sich das goldene Etwas mit dem restlichen Inhalt vermischte. Das Glasgefäß war fast gefüllt. Ein markerschütterndes Geräusch wie die Krallen von Sandechsen auf Schieferplatten vermischt mit tiefem schiefem Mahlen hallte durch den Raum. Ein außerordentlich kranker Verstand könnte es als Lachen deuten.

Aufgabe erledigt. Lob. Lob! Zurück an den Platz. Zurück. Warten. Bald. Bald… Silberne Lichtfäden drangen aus der Kleidung der Gestalt und mischten sich ebenfalls in das Glasgefäß. Reglos stand der Schatten auf seinem Platz.