Statuen #4

Der Weg war nun nicht mehr gerade, sondern wand sich zwischen vereinzelten Felsbrocken und dazwischen gemauerten Häusern nach oben.

Wir liefen einer engen Kurve folgend voran und vor mir tat sich ein Bild der Zerstörung auf. Statt der gepflegten Häuser und unversehrten Skulpturen die uns auf unserem Weg bis hier stumm begleitet hatten, waren vor uns nur noch die ausgebrannten Skelett verfallener Häuser übrig. Auch die Statuen waren nicht länger unversehrt. Einige waren nur vom Ruß geschwärzt, andere regelrecht zerschlagen. Das war kein natürlicher Verfall. Jemand hatte hier mit viel destruktiver Energie gewütet und geplündert.

„Was ist denn hier los?“ in meiner Stimme lag blankes Entsetzen. Ich wich einem abgebrochenen, versteinerten Arm aus, der mitten auf dem Weg lag. Der zugehörige Körper einer jungen Dame war halb im groben Sand vergraben, den der Wind im Laufe der Jahre gegen ein intaktes Stück Wand geblasen hatte. Der Kopf fehlte komplett. Schaudernd lief es mir den Rücken hinab. ‚Das sind Menschen!‘ schrie ich innerlich.

„Die Bürger waren verzweifelt.“ Kazlane schluckte “andere haben… experimentiert.” Diese kurze und knappe Erklärung war auch die einzige Information, die ich ihr abringen konnte. Sie ging auf keine meiner Fragen weiter ein, zuckte meist nur mit den Schultern und drängte mich dazu weiter zu laufen.

Eine Hängebrücke die einen knapp hundert Meter breiten Abgrund vor uns überquerbar machte, trennte die alten Stadtteile von einem Tal. Kurz hinter der Hängebrücke konnte ich ein weiteres Stadttor ausmachen. Eine massive Mauer von gleicher Bauart wie die, die wir vor etwa zwei Stunden durchquert hatten zog sich links und rechts des Stadttors bis zu den steilen Felswänden die hier in den strahlenden Himmel reichten. Aus der Entfernung konnte ich auch endlich die typischen Geräusche einer Stadt ausmachen.

Ähnlich wie die Häuser im ersten Stadtteil wirkte auch die Hängebrücke auf mich stabil und gepflegt. Etwas mulmig war mir trotzdem und ich beging den Fehler durch die Spalten in den Brettern nach unten zu sehen. Der Boden des riesigen Spalts war von dunklen Nebelschwaden verhangen, sodass es unmöglich war, einzuschätzen wie tief der Spalt tatsächlich war. Schnell blickte ich wieder nach vorne und lief weiter.

„Lass mich das regeln“, raunte Kazlane mir zu, als wir schließlich vor dem Stadttor standen und eine der Wachen aus dem Schatten seines Postens auf uns zu schritt. Sie unterhielten sich kurz in der vokallastigen Sprache dieses Kontinents. Dabei deuteten beide Seiten mehrmals in meine Richtung. Obwohl ich inzwischen die typische Kleidung mit ausladender Kapuze gegen die direkte Sonne, und Mundtuch gegen den allgegenwärtigen Sand trug, passten weder meine gedrungene Gestalt noch meine rote Haarpracht und meine viel zu blasse Haut zum üblichen Aussehen der meisten Bewohner hier. Kazlane kehrte zufrieden nickend zu mir zurück. „Es scheint, wir haben Glück. Er sagt du darfst rein“, teilte sie mir mit und der Weg wurde für uns freigegeben.

Seit wir die Altstadt hinter uns gelassen hatten wirkte Kazlane wieder wesentlich entspannter und legte ihre wortkarge Art langsam wieder ab. Vermutlich auch weil sie seit längerer Zeit in ihrer Heimat angekommen war. “Diese Straße hier führt zu einem Marktplatz weiter innen. – eigentlich führt jede Straße hier zu irgendeinem Marktplatz” erklärte sie mir bald fröhlich, wie zu Beginn unserer gemeinsamen Reise, die Eigenheiten ihrer Heimatstadt.

Ich schaute mich aufmerksam um. Die Behausungen waren ähnlich gebaut wie am Anfang der Stadt, nur dichter beisammen und teils übereinander gestapelt. Außerdem waren hier keine Statuen zu sehen.

„Sind die Menschen dem Fluch entkommen?“ „Nein, es ist nur unpraktisch, sie überall herumstehen zu lassen.“ Sie deutete auf die Steilwände und ich erkannte unzählige Öffnungen im Fels. Dort sauber und geschützt aufgereiht erkannte ich verschiedenste Statuen, manche durch Holzkonstruktionen gestützt und gesichert. „Wir sind da“ unterbrach Kazlane meine Beobachtungen und zeigte auf eine Tür die in eins der Häuser führte. Ich folgte ihr hinein.

Sie hatte bereits ihren weiten Mantel, ein grober sandfarbener Stoff, leicht genug um eine durchzulassen, fein genug um in mehreren Lagen den Sand abzuhalten, abgelegt, als sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. “Du kannst deinen Mantel auch hier an die Haken hängen”

Ich folgte ihrer Einladung und setzte mich an den Tisch auf die Eckbank. “Ich hole kurz etwas Wasser”

Sie kehrte mit einem Krug und zwei Tonbechern zurück.

Ich nahm einen Schluck erstaunlich kaltes Wasser zu mir. “Wir haben einen eigenen Brunnen hinten im Haus. – Der Vorteil davon wenn über Generationen hinweg die Stadt immer und immer wieder neu gebaut wird. Die Leute lernen unglaublich viel über das Bauen und den Wert von kleinen Annehmlichkeiten.” sie deutete auf die enge Treppe, die in das obere Stockwerk führte. “Selbst mittags ist es oben angenehm kühl. Oben ist außerdem eine kleine Gästekammer, dort kannst du dein Gepäck abladen.”

“Hast du was dagegen, wenn ich mich etwas hinlege?” Jetzt wo ich mich ausruhen konnte, bemerkte ich umso mehr die Strapazen der Reise. Antworten auf die hundert Fragen würde ich jetzt sowieso nicht von ihr bekommen – aufgeben würde ich aber auch nicht.