Kendya #1
Suchen – Finden – Versiegeln
Die Worte der Zharlock beschreiben unsere Aufgaben.
Wir wachen über alles Dunkle, Gefährliche.
Wir sind die erste und letzte Mauer der Menschheit.
Wir suchen die dämonischen Machenschaften.
Wir finden ihre Ursachen.
Wir versiegeln sie auf dass sie ewig gebannt bleiben.
Wir sind Zharlock – die Hüter des verbotenen Wissens.
Auszug aus der Predigt von Omga Anfha vor den Anwärtern
‚Suchen – Finden – Versiegeln‘ die Worte ihrer Meister hallten in ihrem Kopf wider während sie mit gesenktem Kopf und tief ins Gesicht gezogener Kapuze vorsichtig den rutschigen Fels hinabstieg.
Vor ihr öffnete sich der Blick ins Tal. Der Anblick wäre sicherlich wunderschön – wenn nicht der unablässig prasselnde Regen davor wäre. „Wie soll ich bei diesem Wetter überhaupt was finden?“ Leise grummelnd setzte sie ihren Weg weiter fort. „Wenn du so weiter machst findest du nicht mal ein trockenes Nachtlager.“ Ein hämisches Kichern folgte dieser Feststellung. „Deswegen bist du wahrscheinlich auch noch Anwärterin und keine volle Washra.“ Weiterer Spott.
„Still jetzt“ fauchte Kendya das vorlaute Artefakt an, das an ihrem Gürtel baumelte. Washra – Wanderer, Sucher – das war es was sie anstrebte zu werden. Ein Teil der mysteriösen Zharlock deren genauen Aufgaben, und Strukturen sie selbst noch nicht genau kannte, obwohl sie bereits seit ihrer Kindheit unter ihnen lebte. Wie alle Zharlock war auch Kendya ohne Familie. Wer keine hatte konnte auch nicht mit dieser bedroht oder bestochen werden. Einzig die Gemeinschaft zählt.
Wer geeignet war konnte dem Orden beitreten – so wie Kendya.
„Ich könnte dir sagen wo es hingeht. Aber das wäre langweilig.“ Kendya wünschte sich, sie könnte ihrem Artefakt den Mund versiegeln.
Genau genommen, war das sogar ihre Mission.
Sie löste den in silberne Beschläge gefassten Kristall von ihrem Gürtel, legte die Finger in die vorgesehenen Vertiefungen und schloss ihre Faust fest um das Artefakt. Sie verzog kurz die Stirn als feine Nadeln sich in ihre Finger bohrten. „Oh nein nicht schon wieder…“ der Protest des Artefakts verstummte.
Kendya schloss die Augen und atmete im trainierten Rhythmus. Der Kristall in ihrer Hand leuchtete und eine schemenhafte Gestalt stiegt aus dem Kristall vor ihrem inneren Auge auf.
Der Schemen wand und wehrte sich – versuchte sich loszureißen. Kendya stimmte das tiefe monotone Gebete der Zharlock an und die Gegenwehr des Geistes ließ nach. Widerwillig begann die schattenhafte Gestalt den Weg vor ihr entlangzuwandern und zwischen zwei Felsen zu verschwinden.
Sie löste ihre Finger und mit einem ohrenbetäubenden Kreischen wurde der Schatten zurück in den Kristall gesogen.
„Endlich kurz vor dem Ziel.“ Kendya befestigte das Artefakt wieder sorgfältig am Gürtel und schloss die Hand mehrmals. Mit Abschluss dieser Mission würde auch ihre Ausbildung beendet sein. Das schmucklose Ende ihrer Zeit als Anwärterin.
Sie musste ihr Artefakt – ihr Okrat voll unter ihre Kontrolle bringen. Erst dann war sie eine Washra, Teil der Wanderer des Ordens die immerzu auf der Suche nach dunkler Magie, nach dämonischem Unwesen durch die Lande zogen.
Das Okrat, entwickelt aus den Geisterlampen der Sümpfe von Ewerr Keren, war selbst dunkle Magie und unabdingbares Werkzeug für Kendya und die Washra. Erst wenn es vollendet war konnte sie es für ihre Suche nutzen. Aktuell war es ein sehr vorlaute und sehr schlechter Kompass.
„Einen wirklich tollen Ort hast du dir hier ausgesucht. So voller Leben.“ Kendya konnte ihre Anspannung nicht vollends aus ihrer Stimme verbannen. „Unter diesen Felsen schlummert der feinste weiße Stein.“ Kam die nichtssagende Antwort aus dem Kristall.
Kendya ging im Kopf die Informationen durch die sie über die Seele in ihrem Kristall hatte durch. Eigentlich die perfekten Voraussetzungen für ein Okrat. Ein willensschwacher Künstler der den verführerischen Schmeicheleien eines Dämons zum Opfer gefallen ist. In seiner Besessenheit hatte er seinen gesamten Heimatort auf dem Gewissen, bevor Kendya, angeleitet von ihrer Meisterin Dämon und Seele in einem Kristall einfing. Für die Besessenen selbst gab es keine Rettung mehr, aber immerhin konnten sie so keinen Schaden mehr anrichten.
Der letzte Schritt war es, mit Hilfe des halbfertigen Okrat den Ursprung des Dämonen zu finden und bannen. Erst dann konnte das Okrat voll kontrolliert und für das Aufspüren von dunklen Artefakten, Flüchen und Kreaturen genutzt werden.
Kendya quetschte sich durch die Felsspalte vor ihr. „Wenigstens ist es trocken hier drin.“
Erstaunlicherweise kam keine zynische Antwort zurück. ‚Vermutlich weiß er, dass es bald vorbei ist mit seinen nervigen Sprüchen.‘ Zufrieden grinste Kendya vor sich hin während sie eine kleine Öllampe entzündete.
Sie folgte einem natürlichen Gang tiefer in den Berg hinein. Der Gang wurde zu einer Höhle und am hinteren Ende entdeckte Kendya eine Werkbank. Laternen waren an groben Haken in der Felswand aufgehängt. Sie versuchte die Laternen zu entfachen und tatsächlich schien noch genug Brennstoff in den alten Lampen zu sein. Die Höhle wurde in flackerndes Orange getaucht als sie die Laternen nach und nach anzündete.
Kendya legte ihr Gepäck und ihren Mantel ab und sah sich aufmerksam in der Höhle um. Es schien der Arbeitsplatz eines Bildhauers zu sein.
Fein säuberlich waren diverse Hämmer und Eisen in einem Regal an der Wand einsortiert.
In der Mitte des Raums, umgeben von vier Holzpfählen an denen weitere größere Ölleuchten hingen verhüllte ein großes staubiges Laken eine Figur.
Kendya näherte sich und hielt unbewusst den Atem an, während sie langsam die Hand nach dem Laken ausstreckte. Sie griff das Laken mit der rechten Hand und nahm mit der Linken nach dem Okrat, dass seit sie die Höhle betreten hatte schwach leuchtete. Sie wusste ‚Jetzt stehe ich kurz vor dem Ziel. Was auch immer mich hier erwartet – das Ende meiner Mission liegt unter diesem Laken.‘
Mit einem schnellen Schritt trat sie zurück – bereit jederzeit auszuweichen und zog an dem Laken.
Nichts.
Unter dem Laken kam eine Statue zum Vorschein. Kein Dämon, keine Falle. Einfach nur eine Statue.
Kendya atmete aus. Sie lies das Laken los und betrachtete die Statue. Sie zeigte ein kantiges Gesicht, gezeichnet vom Wetter. Die unbekannte Frau trug ihre Haare kurz und war in weite Gewänder gekleidet die an den Unterarmen, den Unterschenkeln und um die Hüfte mit Bändern umwickelt waren.
Der typische Kleidungsstil der Wüstenhändler. Kendya trat einen weiteren Schritt zurück. Die Frau stand da, als würde sie verzweifelt versuchen jemanden an einem Seil aus einem Abgrund zu ziehen. Ihr Gesicht in einer Mischung aus Verzweiflung und Zorn verzerrt – wirkte so lebendig, dass Kendya unweigerlich zusammenzuckte. Einzig die Farben fehlten, die gesamte Statue war aus reinem weißen Stein geformt. Das hatte das Okrat also gemeint.
In den Händen der Frau war kein Seil sondern ein Buch, oder besser – die Hälfte eines Buchs. Offensichtlich wollte der Bildhauer hier den Kampf um ein Buch darstellen. „Komisches Motiv“ murmelte Kendya.
„Du hast ja keine Ahnung – deck das sofort wieder zu!“ Kendya zuckte erschreckt zusammen als die zornige Stimme des Okrat plötzlich laut das Schweigen brach.
Sie ignorierte den Protest und trat näher an die Hände der Statue. Das zerrissene Buch war nicht aus Stein, sondern tatsächlich ein Buch. Trotz seines offensichtlichen Alters machte es nicht den Eindruck zu verfallen.
„Lass das ja in Ruhe, verzieh dich von hier! VERSCHWINDE!“ „Ja, ja“ Kendya hielt das Okrat näher an das Buch und der Kristall begann heller, unruhiger zu leuchten. „Treffer!“
Sie tat ihr Möglichstes sich nicht von den lautstarken Flüchen und Beleidungen des Okrat aus der Konzentration bringen zu lassen.
„Wage es nicht, ich werde dich mit in die Unterwelt reißen!“ „Ungewünschtes Kind!“ „Scheitern wirst du!“ „Du wirst versagen, wie schon dein ganzes Leben lang!“
Manches stach, aber Kendya bliebt still und begann sich weiter zu fokussieren. Einatmen. Vier Herzschläge abzählen. In acht kurzen Stößen ausatmen. Einatmen. Sechzehn Herzschläge, sechzehn Silben des Ritualgebets. Zurück zur acht, zur vier.
Kendyas Gedanken wurden ruhig, ein Gefühl zu schweben machte sich von der Stirn ausgehend in ihr breit. Sie öffnete ihre Augen – über das Okrat konnte eine Washra die Verbindung zwischen dieser und der Unterwelt herstellen. Sie betrachtete die Statue. Das Buch schien schwarz zu brennen. Es war Zeit.
Kendya stimmt den letzten Teil des Ritualgebets an laut hallte ihre Stimme in der Höhle wieder. Sie erhob sich, hob das Okrat vor sich und zog den gekrümmten bronzenen Dolch von ihrem Gürtel.
Die schwarzen Flammen über dem Buch wurden stärker, stärker und größer. Kendyas Atem wurde zu Nebel, eine unerklärliche Kälte ging von den schwarzen Flammen aus.
Der Geist in ihrem Okrat begann ist zu winden und zu kreischen. Während die Flammen weiter anwuchsen und sich zu einer abscheulichen Gestalt formten.
„Nein“ keuchte Kendya. Die brennende Kreatur die sich weiter vor ihr formte war viel zu groß. „Das ist kein einfacher niederer Dämon, das ist ein Diener der Älteren.“ Kendya kannte die Gestalt nur zu gut. Jedes einzelne Mitglied des Ordens wusste was zu tun war: Fliehen!
Manisches Lachen brachte Kendya zurück ins Jetzt. Zwischen den gequälten Schreien hörte sie das Okrat „Ich hab’s dir gesagt – jetzt ist es vorbei – du bist gescheitert.“
Sie musste weg hier. Kontakt zum Orden aufnehmen. Das Gebiet absichern. Weg, erst mal weg hier.
Sie holte aus, schleuderte ihren Dolch in die Flammen, drehte sich um rannte los. Der Dolch wird es kaum aufhalten. Sie sprintete auf den Gang zu und hatte den Raum fast durchquert als sie einen dumpfen Schlag in den Rücken bekam. Kendya taumelte. Sie fühlte wie ihre Kleidung und der lange geflochtene Zopf steif und kalt wurden. Eine schwarze Flamme züngelte an ihrer Wange entlang, riss an ihrer Schulter und ein stechender brennender Schmerz breitete sich von ihrer linken Gesichtshälfte aus. Ihr wurde schwarz vor Augen. Schmerzen als würde ihr Kopf in zwei Teile gerissen. Ein weiterer dumpfer Schlag warf sie wieder nach vorne.
Das Okrat glitt aus ihrer Hand während sie das Bewusstsein verlor. Kurz schien ihr, also würde die Statue der Frau ihr zulächeln. Dann spürte sie gar nichts mehr.
Mit einem metallenen Klirren landete das Okrat auf dem Steinboden der Höhle.
Zitternd und mit stechenden Kopfschmerzen erwachte Kendya. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Alle Lampen waren erloschen nur ein schwaches grünliches Leuchten erhellte einen kleinen Kreis vor ihr. Das Okrat. Es hatte funktioniert. Das Ritual war abgeschlossen. „Wie?“ flüsterte Kendya.
Stöhnend erhob sie sich und las das Artefakt vom Boden auf. „Ichti Washra!“ Der Befehl brachte das Okrat für einen Kurzen Moment zum Leuchten. Eine Welle grünen Lichts strömte vom Kristall durch die Höhle und erlosch. Keine Veränderung im Licht. Keine Präsenz aus der Unterwelt. „Wie ist das möglich?“ Ein vollendetes Okrat hatte keinen eigenen Willen, keine Persönlichkeit und konnte demnach auch nicht mehr mit ihr sprechen. Ein komisches Gefühl. Über ein halbes Jahr hatte die vorlaute Laterne ihr jeden Tag in den Ohren gelegen. Versucht sie zu überreden die Suche abzubrechen, lieber ‚ein normales Leben‘ zu führen, als der Geist erfahren hatte, was das Ziel ihrer Reise war.
„Du darfst nie vergessen, dass du es hier mit einem Mensch zu tun hast, der sich auf Dämonen eingelassen hat. Der für Ruhm und Reichtum oder andere fadenscheinige Gründe, seine Menschlichkeit aufgegeben und vielen geschadet hat.“ Klang die Erinnerung ihrer letzten Lehrerin in ihren Ohren nach. „Schenke ihm keine Sympathie und kein Vertrauen.“
Sie würde sich sicher bald an die Stille gewöhnen. „Schon jetzt sehr wohltuend.“
Kendya suchte ihre Öllampe und entzündete auch ein paar der im Raum verteilten Laternen erneut.
Von der Statue der Frau war nur noch feiner Sand übrig. Kendya fand ein Stück Papier in dem feinen weißen Gesteinspulver. Der Rand war schwarze und etwas Asche bröselte ab, als sie es aus dem Haufen zog. Der Rest des Buchs schien komplett verbrannt zu sein.
Bevor Kendya die Höhle verließ drehte sie sich noch einmal um und blickte zu den Überresten der Statue zurück. „Danke.“