Kurzgeschichten

Suchen – Finden – Versiegeln

Die Worte der Zharlock beschreiben unsere Aufgaben.

Wir wachen über alles Dunkle, Gefährliche.

Wir sind die erste und letzte Mauer der Menschheit.

Wir suchen die dämonischen Machenschaften.

Wir finden ihre Ursachen.

Wir versiegeln sie auf dass sie ewig gebannt bleiben.

Wir sind Zharlock – die Hüter des verbotenen Wissens.

Auszug aus der Predigt von Omga Anfha vor den Anwärtern

‚Suchen – Finden – Versiegeln‘ die Worte ihrer Meister hallten in ihrem Kopf wider während sie mit gesenktem Kopf und tief ins Gesicht gezogener Kapuze vorsichtig den rutschigen Fels hinabstieg.

Vor ihr öffnete sich der Blick ins Tal. Der Anblick wäre sicherlich wunderschön – wenn nicht der unablässig prasselnde Regen davor wäre. „Wie soll ich bei diesem Wetter überhaupt was finden?“ Leise grummelnd setzte sie ihren Weg weiter fort. „Wenn du so weiter machst findest du nicht mal ein trockenes Nachtlager.“ Ein hämisches Kichern folgte dieser Feststellung. „Deswegen bist du wahrscheinlich auch noch Anwärterin und keine volle Washra.“ Weiterer Spott.

„Still jetzt“ fauchte Kendya das vorlaute Artefakt an, das an ihrem Gürtel baumelte. Washra – Wanderer, Sucher – das war es was sie anstrebte zu werden. Ein Teil der mysteriösen Zharlock deren genauen Aufgaben, und Strukturen sie selbst noch nicht genau kannte, obwohl sie bereits seit ihrer Kindheit unter ihnen lebte. Wie alle Zharlock war auch Kendya ohne Familie. Wer keine hatte konnte auch nicht mit dieser bedroht oder bestochen werden. Einzig die Gemeinschaft zählt.

Wer geeignet war konnte dem Orden beitreten – so wie Kendya.

„Ich könnte dir sagen wo es hingeht. Aber das wäre langweilig.“ Kendya wünschte sich, sie könnte ihrem Artefakt den Mund versiegeln.

Genau genommen, war das sogar ihre Mission.

Sie löste den in silberne Beschläge gefassten Kristall von ihrem Gürtel, legte die Finger in die vorgesehenen Vertiefungen und schloss ihre Faust fest um das Artefakt. Sie verzog kurz die Stirn als feine Nadeln sich in ihre Finger bohrten. „Oh nein nicht schon wieder…“ der Protest des Artefakts verstummte.

Kendya schloss die Augen und atmete im trainierten Rhythmus. Der Kristall in ihrer Hand leuchtete und eine schemenhafte Gestalt stiegt aus dem Kristall vor ihrem inneren Auge auf.

Der Schemen wand und wehrte sich – versuchte sich loszureißen. Kendya stimmte das tiefe monotone Gebete der Zharlock an und die Gegenwehr des Geistes ließ nach. Widerwillig begann die schattenhafte Gestalt den Weg vor ihr entlangzuwandern und zwischen zwei Felsen zu verschwinden.

Sie löste ihre Finger und mit einem ohrenbetäubenden Kreischen wurde der Schatten zurück in den Kristall gesogen.

„Endlich kurz vor dem Ziel.“ Kendya befestigte das Artefakt wieder sorgfältig am Gürtel und schloss die Hand mehrmals. Mit Abschluss dieser Mission würde auch ihre Ausbildung beendet sein. Das schmucklose Ende ihrer Zeit als Anwärterin.

Sie musste ihr Artefakt – ihr Okrat voll unter ihre Kontrolle bringen. Erst dann war sie eine Washra, Teil der Wanderer des Ordens die immerzu auf der Suche nach dunkler Magie, nach dämonischem Unwesen durch die Lande zogen.

Das Okrat, entwickelt aus den Geisterlampen der Sümpfe von Ewerr Keren, war selbst dunkle Magie und unabdingbares Werkzeug für Kendya und die Washra. Erst wenn es vollendet war konnte sie es für ihre Suche nutzen. Aktuell war es ein sehr vorlaute und sehr schlechter Kompass.

„Einen wirklich tollen Ort hast du dir hier ausgesucht. So voller Leben.“ Kendya konnte ihre Anspannung nicht vollends aus ihrer Stimme verbannen. „Unter diesen Felsen schlummert der feinste weiße Stein.“ Kam die nichtssagende Antwort aus dem Kristall.

Kendya ging im Kopf die Informationen durch die sie über die Seele in ihrem Kristall hatte durch. Eigentlich die perfekten Voraussetzungen für ein Okrat. Ein willensschwacher Künstler der den verführerischen Schmeicheleien eines Dämons zum Opfer gefallen ist. In seiner Besessenheit hatte er seinen gesamten Heimatort auf dem Gewissen, bevor Kendya, angeleitet von ihrer Meisterin Dämon und Seele in einem Kristall einfing. Für die Besessenen selbst gab es keine Rettung mehr, aber immerhin konnten sie so keinen Schaden mehr anrichten.

Der letzte Schritt war es, mit Hilfe des halbfertigen Okrat den Ursprung des Dämonen zu finden und bannen. Erst dann konnte das Okrat voll kontrolliert und für das Aufspüren von dunklen Artefakten, Flüchen und Kreaturen genutzt werden.

Kendya quetschte sich durch die Felsspalte vor ihr. „Wenigstens ist es trocken hier drin.“

Erstaunlicherweise kam keine zynische Antwort zurück. ‚Vermutlich weiß er, dass es bald vorbei ist mit seinen nervigen Sprüchen.‘ Zufrieden grinste Kendya vor sich hin während sie eine kleine Öllampe entzündete.

Sie folgte einem natürlichen Gang tiefer in den Berg hinein. Der Gang wurde zu einer Höhle und am hinteren Ende entdeckte Kendya eine Werkbank. Laternen waren an groben Haken in der Felswand aufgehängt. Sie versuchte die Laternen zu entfachen und tatsächlich schien noch genug Brennstoff in den alten Lampen zu sein. Die Höhle wurde in flackerndes Orange getaucht als sie die Laternen nach und nach anzündete.

Kendya legte ihr Gepäck und ihren Mantel ab und sah sich aufmerksam in der Höhle um. Es schien der Arbeitsplatz eines Bildhauers zu sein.

Fein säuberlich waren diverse Hämmer und Eisen in einem Regal an der Wand einsortiert.

In der Mitte des Raums, umgeben von vier Holzpfählen an denen weitere größere Ölleuchten hingen verhüllte ein großes staubiges Laken eine Figur.

Kendya näherte sich und hielt unbewusst den Atem an, während sie langsam die Hand nach dem Laken ausstreckte. Sie griff das Laken mit der rechten Hand und nahm mit der Linken nach dem Okrat, dass seit sie die Höhle betreten hatte schwach leuchtete. Sie wusste ‚Jetzt stehe ich kurz vor dem Ziel. Was auch immer mich hier erwartet – das Ende meiner Mission liegt unter diesem Laken.‘

Mit einem schnellen Schritt trat sie zurück – bereit jederzeit auszuweichen und zog an dem Laken.

Nichts.

Unter dem Laken kam eine Statue zum Vorschein. Kein Dämon, keine Falle. Einfach nur eine Statue.

Kendya atmete aus. Sie lies das Laken los und betrachtete die Statue. Sie zeigte ein kantiges Gesicht, gezeichnet vom Wetter. Die unbekannte Frau trug ihre Haare kurz und war in weite Gewänder gekleidet die an den Unterarmen, den Unterschenkeln und um die Hüfte mit Bändern umwickelt waren.

Der typische Kleidungsstil der Wüstenhändler. Kendya trat einen weiteren Schritt zurück. Die Frau stand da, als würde sie verzweifelt versuchen jemanden an einem Seil aus einem Abgrund zu ziehen. Ihr Gesicht in einer Mischung aus Verzweiflung und Zorn verzerrt – wirkte so lebendig, dass Kendya unweigerlich zusammenzuckte. Einzig die Farben fehlten, die gesamte Statue war aus reinem weißen Stein geformt. Das hatte das Okrat also gemeint.

In den Händen der Frau war kein Seil sondern ein Buch, oder besser – die Hälfte eines Buchs. Offensichtlich wollte der Bildhauer hier den Kampf um ein Buch darstellen. „Komisches Motiv“ murmelte Kendya.

„Du hast ja keine Ahnung – deck das sofort wieder zu!“ Kendya zuckte erschreckt zusammen als die zornige Stimme des Okrat plötzlich laut das Schweigen brach.

Sie ignorierte den Protest und trat näher an die Hände der Statue. Das zerrissene Buch war nicht aus Stein, sondern tatsächlich ein Buch. Trotz seines offensichtlichen Alters machte es nicht den Eindruck zu verfallen.

„Lass das ja in Ruhe, verzieh dich von hier! VERSCHWINDE!“ „Ja, ja“ Kendya hielt das Okrat näher an das Buch und der Kristall begann heller, unruhiger zu leuchten. „Treffer!“

Sie tat ihr Möglichstes sich nicht von den lautstarken Flüchen und Beleidungen des Okrat aus der Konzentration bringen zu lassen.

„Wage es nicht, ich werde dich mit in die Unterwelt reißen!“ „Ungewünschtes Kind!“ „Scheitern wirst du!“ „Du wirst versagen, wie schon dein ganzes Leben lang!“

Manches stach, aber Kendya bliebt still und begann sich weiter zu fokussieren. Einatmen. Vier Herzschläge abzählen. In acht kurzen Stößen ausatmen. Einatmen. Sechzehn Herzschläge, sechzehn Silben des Ritualgebets. Zurück zur acht, zur vier.

Kendyas Gedanken wurden ruhig, ein Gefühl zu schweben machte sich von der Stirn ausgehend in ihr breit. Sie öffnete ihre Augen – über das Okrat konnte eine Washra die Verbindung zwischen dieser und der Unterwelt herstellen. Sie betrachtete die Statue. Das Buch schien schwarz zu brennen. Es war Zeit.

Kendya stimmt den letzten Teil des Ritualgebets an laut hallte ihre Stimme in der Höhle wieder. Sie erhob sich, hob das Okrat vor sich und zog den gekrümmten bronzenen Dolch von ihrem Gürtel.

Die schwarzen Flammen über dem Buch wurden stärker, stärker und größer. Kendyas Atem wurde zu Nebel, eine unerklärliche Kälte ging von den schwarzen Flammen aus.

Der Geist in ihrem Okrat begann ist zu winden und zu kreischen. Während die Flammen weiter anwuchsen und sich zu einer abscheulichen Gestalt formten.

„Nein“ keuchte Kendya. Die brennende Kreatur die sich weiter vor ihr formte war viel zu groß. „Das ist kein einfacher niederer Dämon, das ist ein Diener der Älteren.“ Kendya kannte die Gestalt nur zu gut. Jedes einzelne Mitglied des Ordens wusste was zu tun war: Fliehen!

Manisches Lachen brachte Kendya zurück ins Jetzt. Zwischen den gequälten Schreien hörte sie das Okrat „Ich hab’s dir gesagt – jetzt ist es vorbei – du bist gescheitert.“

Sie musste weg hier. Kontakt zum Orden aufnehmen. Das Gebiet absichern. Weg, erst mal weg hier.

Sie holte aus, schleuderte ihren Dolch in die Flammen, drehte sich um rannte los. Der Dolch wird es kaum aufhalten. Sie sprintete auf den Gang zu und hatte den Raum fast durchquert als sie einen dumpfen Schlag in den Rücken bekam. Kendya taumelte. Sie fühlte wie ihre Kleidung und der lange geflochtene Zopf steif und kalt wurden. Eine schwarze Flamme züngelte an ihrer Wange entlang, riss an ihrer Schulter und ein stechender brennender Schmerz breitete sich von ihrer linken Gesichtshälfte aus. Ihr wurde schwarz vor Augen. Schmerzen als würde ihr Kopf in zwei Teile gerissen. Ein weiterer dumpfer Schlag warf sie wieder nach vorne.

Das Okrat glitt aus ihrer Hand während sie das Bewusstsein verlor. Kurz schien ihr, also würde die Statue der Frau ihr zulächeln. Dann spürte sie gar nichts mehr.

Mit einem metallenen Klirren landete das Okrat auf dem Steinboden der Höhle.

Zitternd und mit stechenden Kopfschmerzen erwachte Kendya. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Alle Lampen waren erloschen nur ein schwaches grünliches Leuchten erhellte einen kleinen Kreis vor ihr. Das Okrat. Es hatte funktioniert. Das Ritual war abgeschlossen. „Wie?“ flüsterte Kendya.

Stöhnend erhob sie sich und las das Artefakt vom Boden auf. „Ichti Washra!“ Der Befehl brachte das Okrat für einen Kurzen Moment zum Leuchten. Eine Welle grünen Lichts strömte vom Kristall durch die Höhle und erlosch. Keine Veränderung im Licht. Keine Präsenz aus der Unterwelt. „Wie ist das möglich?“ Ein vollendetes Okrat hatte keinen eigenen Willen, keine Persönlichkeit und konnte demnach auch nicht mehr mit ihr sprechen. Ein komisches Gefühl. Über ein halbes Jahr hatte die vorlaute Laterne ihr jeden Tag in den Ohren gelegen. Versucht sie zu überreden die Suche abzubrechen, lieber ‚ein normales Leben‘ zu führen, als der Geist erfahren hatte, was das Ziel ihrer Reise war.

„Du darfst nie vergessen, dass du es hier mit einem Mensch zu tun hast, der sich auf Dämonen eingelassen hat. Der für Ruhm und Reichtum oder andere fadenscheinige Gründe, seine Menschlichkeit aufgegeben und vielen geschadet hat.“ Klang die Erinnerung ihrer letzten Lehrerin in ihren Ohren nach. „Schenke ihm keine Sympathie und kein Vertrauen.“

Sie würde sich sicher bald an die Stille gewöhnen. „Schon jetzt sehr wohltuend.“

Kendya suchte ihre Öllampe und entzündete auch ein paar der im Raum verteilten Laternen erneut.

Von der Statue der Frau war nur noch feiner Sand übrig. Kendya fand ein Stück Papier in dem feinen weißen Gesteinspulver. Der Rand war schwarze und etwas Asche bröselte ab, als sie es aus dem Haufen zog. Der Rest des Buchs schien komplett verbrannt zu sein.

Bevor Kendya die Höhle verließ drehte sie sich noch einmal um und blickte zu den Überresten der Statue zurück. „Danke.“

„Æl!“

Æl schlug die Augen auf und stolperte eine Schritt zurück. Ein plötzlicher Ruck um die Hüfte stoppte Æls Rückwärtsbewegung, so schnell wie sie begonnen hatte. Ein Seil war um Æls Taille gewickelt. Darunter, ein raues, verwaschenes Oberteil und eine Hose aus dem selben Material.

Æl holte Luft und schaute sich um. Das Seil führte zu einem Haken, der in den Fels gehauen war und war dort verknotet. Der Boden führte schräg hinauf. Gerade so steil, dass Æl nicht mehr ohne das Seil stehen konnte.

Der Blick nach unten war durch immer dichtere Wolken versperrt, doch in der näheren Umgebung waren weitere Gestalten zu sehen. Alle hingen mit einem Seil um die Hüfte am Fels, der mal steiler, und mal flacher wirkte.

Keine der anderen Gestalten reagierte als Æl rief und winkte, sodass der Kontaktversuch nach einer Weile ergebnislos abgebrochen wurde. Ich bin also auf mich alleine gestellt.

Ein schabendes Geräusch lenkte Æls Aufmerksamkeit nach oben. Schräg links, gar nicht so weit weg, öffneten sich langsam zwei schwere Flügel einer Tür, knapp oberhalb eines weiteren Haken. Kräftige Arme erschienen in der Öffnung und zogen die in eine Robe gehüllte Person ins Innere des Berges.

Ein Weg! Æl presste sich an den Berg und versuchte nach oben zu klettern. Hier und da waren kleine Vorsprünge im sonst eher glatten Gestein und boten Halt. Der untere Rand der Tür war fast in Griffweite. Das Seil war zu kurz. So sehr Æl sich bemühte der Weg – so nah – blieb doch unerreichbar. Mit einem weiteren Schaben, begann sich die Tür wieder zu schließen und mit einem letzten Ächzen war der Zugang wieder versperrt.

Ein Wind zog auf und durch die luftige Kleidung begann Æl zu frösteln. Im immer stärker werdenden Wind so dicht wie möglich an die Seite des Felsens gepresst hing Æl zitternd am Seil das den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte.

Wie bin ich hier gelandet? WO bin ich hier gelandet? Ich muss irgendwie in den Berg kommen. Ohne eine Antwort auf diese und viele weitere Fragen versuchte Æl angestrengt irgendeine Erinnerung an das zu finden was vorher passiert war. Doch da war nichts. Auch der Berg selbst offenbarte nichts. Nach unten weg, in unregelmäßigen Abständen Haken mit Seilen. Manche flatterten leer im Wind, der immer stärker zu werden schien. An anderen hingen ebenfalls Menschen. Manche ebenfalls an die Wand gepresst im Versuch den starken Böen zu entkommen. Von irgendwoher schallte ein irres Lachen. Vereinzelt drang auch metallisches Klirren aus der Wolkendecke die nach unten hin immer dichter wurde. Nach oben sah es ähnlich aus. Æl kniff die Augen gegen den Wind zusammen und bildete sich ein, hier und da noch weitere Türen zu erspähen. Von oben mischte sich ein neues Geräusch in das Heulen des Windes. „Tock, ping, tock, tock, klapper, tunk.“ Etwas kam auf Æl zu. Der Wind bäumte sich auf und etwas helles, blitzendes kam angesprungen. Æl zuckte zusammen und riss die Arme vors Gesicht.

Ein starker Ruck am Seil, dann war es still. Æl senkte vorsichtig die Hände und schrie. Ein Totenschädel hing zwischen Seil und Berg. Nach ein paar Sekunden hatte Æl sich beruhigt und inspizierte das Skelett. Bleiche Knochen hatten sich im Haken und dem Seil verfangen. Zusammen mit einer Spitzhacke.

Angewidert, zog Æl langsam und vorsichtig die Spitzhacke aus dem Gewirr. Einzelne Knochen lösten sich und rutschten weiter den Berg hinab. Ein paar Handgriffe später, waren auch die übrigen sterblichen Überreste auf dem Weg weiter nach unten.

Was jetzt? Irgendwie in den Berg? Hierbleiben war jedenfalls keine Option.

Æl suchte mit den Füßen sicheren Halt unterhalb des Hakens. Die Spitzhacke mit beiden Händen weit über den Kopf gehoben holte Æl aus und zielte mit der Hacke auf den nackten Fels oberhalb des Hakens, der die einzige Sicherung gegen den Sturz in den Tod darstellte. Hoffentlich hält der Haken!

Kleine Felssplitter brachen aus dem Gestein. Gut, der Berg schien weicher zu sein als gedacht. Weiter so!

Der nächste Schlag und der nächste. Eine Ewigkeit. Æls Arme begannen zu brennen. Die Zehen und Fußballen waren wund vom schlechten Halt. Die Spitzhacke in der Seilschlinge um die Hüfte verstaut, betrachtete Æl den Fortschritt. Eine kleine Kuhle war im sonst eher glatten Stein entstanden. Von der harten, körperlichen Arbeit erschöpft, sackte Æls Kopf nach unten. Es fiel schwer, die Augen offenzuhalten. Nein, ich muss weitermachen!

Ein paar eher ergebnislose Versuche später gab Æl auf. Eine kurze Pause tat sicher gut. Nur etwas erholen…

Æl schreckte hoch. Wie viel Zeit war vergangen? Die Arme und Füße schmerzten, der ganze Körper steif und kalt. War es dunkler geworden?

Mühsam arbeitete Æl sich hoch, nahm erneut die Spitzhacke zur Hand und begann das eintönige, Kräfte zehrende Handwerk fortzusetzen.

Ohne Möglichkeit die Zeit zu messen, oder überhaupt abzuschätzen, konnte Æl nicht sagen, wie lange die Arbeit dauerte. Unregelmäßig schien es etwas heller und dunkler zu werden, aber einen Tagesablauf konnte Æl nicht ausmachen.

Das Loch reichte inzwischen fast eine ganze Armeslänge in den Fels. Hoch die Hacke. Schlagen.

Leuchtete da etwas im Gestein?

Hoffnungsvoll zog sich Æl über den Rand der Öffnung und kauerte, mit dem Gesicht dich am Stein. In der Tat. Da kam Licht aus einem kleinen Spalt. Bin ich auf eine Höhle im Berg gestoßen?

Die Schmerzen in Armen und Beinen fast verdrängt stellte Æl sich an den Rand und begann frenetisch auf den kleinen Spalt einzuhämmern. Tatsächlich, da drang ein flackerndes schwaches Schimmern nach außen.

Schlag für Schlag weitete sich das Loch. Mit blutenden Handflächen, aufgerissenen Fußsohlen und angestrengt zitternd steckte Æl prüfend einen Arm und anschließend den Kopf durch den klaffenden Spalt. Im Inneren ging es gut eine Körperlänge nach unten der Boden schien aber doch recht nah und stabil. Vorsichtig hievte Æl sich vollständig durch die Öffnung, verlor den Halt, rutschte ab und baumelte kopfüber durch das Loch.

Æl drehte sich am inneren der Höhle entlangtastend richtig herum und versuchte, durch die Schlinge zu schlüpfen. Mit gestreckten Armen, ließ Æl sich langsam auf den Höhlenboden herab.

Erschöpft setzte sich Æl zum ersten Mal auf ebenen Boden.

Die Wände, Decke und Boden der Höhle waren künstlich angelegt. Jemand hatte sich hier entlang gegraben. Wie viel Arbeit das wohl gewesen sein muss.

Æl merkte wie der gesamte Körper vor Erschöpfung schwer geworden war. Auch die Schmerzen überall meldeten sich mit dumpfem Pochen zurück.

Zu zerstört um mit mehr als leichtem Erstaunen zu reagieren, bemerkte wie Æl wie sich das Loch, das eben noch der selbst geschlagene Eingang war, mit Knirschen und Mahlen wieder wie von selbst zu- zuwuchs?

Wo genau bin ich hier?

Mit diesem Gedanken schlief Æl erschöpft auf dem Boden der Höhle, oder besser gesagt des Schachts, im Berg ein.

„Argh!“ mit schmerzverzerrtem Gesicht drückte Æl sich hoch. Arme und Beine schmerzten nach wie vor. Die Wunden an Händen und Füßen waren inzwischen verkrustet und es tat weh sich aufzustützen. Der Schlaf war nötig gewesen, aber der harte kalte Steinboden hatte nicht gerade zur Muskelentspannung und Erholung beigetragen.

Auf allen Vieren kroch Æl vorsichtig zur Wand und lehnte sich an. Der Boden war, genau wie die Wände, direkt in den Fels geschlagen. Hier und da waren Werkzeugspuren zu erkennen, vermutlich von ähnlichen Hacken wie die, die direkt neben Æl lag.

Die verkrampften Muskeln erinnerten an die Tortur in den Berg zu gelangen und Æl war unweigerlich von Bewunderung gefüllt für die Menschen, die hier einen so breiten Schacht geschlagen hatten.

Was Æl bei der Ankunft für eine Höhle gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein sehr ausladender Schacht, der sich in beide Richtungen weiterzog.

Warmes Licht, wie von Feuer, erleuchtete sachte flackernd die unmittelbare Umgebung. Wo das wohl herkommt? Die Wände waren glatt und auch an der Decke war weit und breit keine Lichtquelle zu finden.

Wenigstens kein Wind. Und das warme Leuchten war ein angenehmer Kontrast zur grauen Umgebung außerhalb des Bergs.

Außerhalb! Æl erinnerte sich dumpf an das Erstaunen, als der Berg begonnen hatte das Loch von selbst zu schließen. So viel Arbeit und Mühe einfach in Nichts aufgelöst. Beziehungsweise in Stein.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, Æl war mehrmals eingeschlafen und wieder aufgeschreckt, kehrte die Kraft langsam in Arme und Beine zurück und auch die Schmerzen waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen.

Die Wand selbst zeigte keine Spuren mehr und Æl war sich nicht mal sicher, ob das überhaupt die richtige Wand war.

Der Gang wand sich in beide Richtungen scheinbar gleich weiter, und das Licht schien nach einiger Entfernung nicht mehr zu leuchten – jedenfalls konnte Æl außer Dunkelheit in einem gewissen Abstand nichts mehr erkennen.

Nachdem keine Richtung besser oder schlechter wirkte als die andere, nahm Æl schließlich die Spitzhacke auf, drehte sich nach links und machte sich gequält humpelnd und langsam auf den Weg die Umgebung zu erkunden.

Schritt für Schritt ging es weiter den Gang entlang. Ein sehr langer Gang. Auch ein sehr langweiliger Gang. Nichts. Nur Boden, Wände, Decke. Und das Flackern. Das Flackern war irgendwie interessant. Es gab nach wie vor keine Quelle, aber Æl brauchte sich scheinbar auch erst mal keine Sorgen zu machen plötzlich im Dunkeln zu laufen. Es war zwar nach wie vor dunkel nach vorne und hinten, aber das Leuchten schien mit zu wandern, sodass Æl stets die nähere Umgebung erkennen konnte.

Eine weitere, gefühlte Ewigkeit des endlosen Marsches durch den endlosen Gang, tauchten die ersten Zeichen von Veränderung und anderem Leben auf.

Von den vielen anderen Gestalten, die außen am Berg zu sehen gewesen waren, war kein einziger bisher über Æls Weg gelaufen. Gab es überhaupt jemand anderen hier?

Scheinbar ja, denn vereinzelt, mit vielen, weiten Abständen, hatten wohl manche versucht, sich zur Seite durchzugraben, den breiten Gang zu verlassen.

Die meisten dieser Versuche waren aber wohl schnell wieder aufgegeben worden. Von kleinen Einbuchtungen bis zu Öffnungen die etwa einen halben Schritt tief waren, fanden sich hier verschiedene in den Stein gehauene Spuren anderer.

Æl kam sogar an einem Gang vorbei, der viele Schritte tief in den Fels führte. Nach einer Weil war aber das Leuchten verschwunden und Æl umgedreht um nicht in völliger Dunkelheit vor einer Sackgasse zu stehen. Zwei drei weitere tiefere Gänge später zeichnete sich das gleiche Bild ab. Wer sich zu weit vom Hauptschacht entfernte musste im Dunkeln weitergehen – und vermutlich weiterarbeiten, denn die Gänge waren ja nicht einfach so da.

So ging es weiter den ansonsten monotonen breiten Schacht mit seinem mysteriösem Leuchten entlang.

Ein neues Geräusch unterbrach die vorherrschende Stille, in der sonst nur Æls schlurfende Schritte zu hören waren.

Sehr leise, fast unbemerkt, begann ein Surren. Das Surren wurde lauter und lauter und eine Brise zog durch den Schacht.

Æl war stehen geblieben und blickte angestrengt in die Dunkelheit.

Aus dem Surren wurde ein tönendes, dröhnendes Brummen und langsam zeichnete sich ein Umriss in der Dunkelheit ab. Eine kleine Gestalt mit riesigen, schillernden, schnell vibrierenden Flügeln, die fast den gesamten Gang ausfüllten.

Ein unförmiger Klumpen, ein Hals war nicht wirklich auszumachen, mit lächerlich dünnen Armen und Beinen und verhältnismäßig großer Nase, die bis zur Stirn reichte, hing in Gurten an einer Apparatur, die wohl die Flügel antrieb.

Kurz vor Æl wurde die Gestalt langsamer und landete vorwärts schlitternd, die vier Flügel nach hinten gefaltet.

Die Kreatur ging, mühsam ächzend die Flugmaschine auf den Rücken geschnallt, die Flügel hinterher-schleifend die letzten Schritte, blieb stehen, drehte den Kopf nach oben und musterte Æl von Kopf bis Fuß mit gerümpfter Nase.

Der fleckig grün-violette Körper steckte in einem Anzug mit etwas zu breiten Ärmeln. Dunkles Rot und viele silberne Knöpfe, samtige Schnüre und andere Verzierungen, versuchten ihr Bestes tragend und würdevoll zu wirken, so ganz gelang es aber nicht dieses klumpige Wesen mit den tiefliegenden Augen und dem leicht schiefen Mund irgendwie autoritär oder amtlich zu machen.

Nach eingängiger Prüfung kramte es in einem Beutel der ihm um den Hals hing. Ein Klemmbrett und Stift kamen zum Vorschein.

„E-hem. Willkommen, wie vorab mitgeteilt werden sie eingeteilt. Name?“

„Was?“

„Ist das der Name?“

„Nein – Äh – Æl. Was…?“

„Äh Æl Was. Notiert. Finden Sie sich nun im vorgegebenen Warteraum ein, es geht dann bald weiter.“

„Wie bitte… Ich meine… Äh, wo ist das hier? Was wurde mitgeteilt? Wer bist… sind Sie?“

„§1 Satz 1 der allgemeinen Gemeinschaftsordnung: Um Logikfehler und hindernde Nachfragen zu unterbinden verzichtet das AMT auf weitere Erklärungen.“

„Allgemeine… hä? Mir wurde auch soweit ich weiß nichts mitgeteilt.“

„Nur weil Sie sich nicht erinnern, heißt dass nicht, dass nichts mitgeteilt wurde. Vielleicht waren Sie ja nicht am Ort der Mitteilung. Wie auch immer: §1 Satz 1 der allgemeinen Gemeinschaftsordnung….“

„Ja, ja, auf Erklärungen wird verzichtet.“

„Richtig, macht nur Ärger. Hier, gut darauf aufpassen!“

Das verwirrende Wesen drückte Æl ein Stück sehr altes, sehr trockenes und bereits leicht rissiges Papier in die Hand auf dem „Äh Æl Was“ und ein paar nichtssagende Symbole sowie „AMT“ zu sehen war.

Bevor Æl weitere Fragen stellen konnte, war das Wesen schon vorbei geschlurft, zog an einer Kette der Apparatur und düste erstaunlich schnell und mit ohrenbetäubendem Brummen davon. Der starke Luftstoß ließ Æl zurücktaumeln und mit dem leiser werdenden Surren der Flügel kehrte die Stille zurück in den Gang.

Æl betrachtete das fragile Stück Papier. Gut darauf aufpassen hatte es gesagt. Einfach gesagt als getan. Die verwaschene Kleidung genauer inspizierend fragte sich Æl ob die Hosentaschen schon vorher da waren. Nun gut. Vorsichtig schob Æl das Schriftstück in die neu entdeckte Hosentasche, nahm die Spitzhacke die während des Gesprächs an die Wand gelehnt war zur Hand und machte sich weiter daran dem endlosen Schacht tiefer in den Berg zu folgen.